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Die Neue Oberstufe (NOST): Anspruch und Realität

Kommentar von Prof. Mag. Friedrich Neuberger

 

Die Vorgeschichte:

 

Mit dem Schuljahr 2017/18 sollten ursprünglich alle mindestens dreijährigen

Oberstufenformen ab der 10. Schulstufe (6.Klassen AHS bzw. zweiter Jahrgang oder zweite Klasse an berufsbildenden mittleren und höheren Schulen) sowie die land- und forstwirtschaftlichen Schulen auf die NOST umsteigen.

 

Diese wurde vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung als „modernes pädagogisches Gesamtkonzept mit dem Ziel einer verstärkten Individualisierung und Kompetenzorientierung“ angekündigt.  Vom „Anspruch, die Motivation der Schüler zu heben, indem positive Leistungen immer anerkannt werden und auch bei Wiederholungen erhalten bleiben“, war die Rede. Ferner wurde euphorisch verkündet, dass diese zu „höheren Erfolgsquoten, einer Reduktion von Abbrüchen der Schullaufbahn führen“ werde und besonders die Stärkung der Eigenverantwortung der Schüler zum Ziel habe.

Großen Worten sollten nun große Taten folgen, doch dem war nicht so. Ohne sich wirklich über die Ausführung und die Konsequenzen einer solchen „Reform“ Gedanken zu machen, sprangen mitunter viele Schulleiter, ohne lange mit dem Lehrerkollegium über die Einführung der NOST nachzudenken bzw. zu diskutieren, auf den Zug auf. An 26 der 345 AHS -und an 185 der 365 BMHS-Standorten wurde die NOST „installiert“. 

Doch aufgrund von Rückmeldungen aus der Praxis wurde den Schulleitungen die Möglichkeit offeriert, den Start auf 2019/20 zu verschieben. Zu „unaus-gegoren“, schwer verständlich bis kaum administrierbar und mitunter fatal für manche Schüler erwies sich die von Experten angekündigte Bildungsoffensive. 

 

Nach dem Regierungswechsel im Jahr 2018 und mit dem Auftreten des neuen Bildungsministers Faßmann wurde aufgrund wieder heftig auflebender Kritik von Lehrern, Eltern und Schülern die verbindliche Einführung der NOST wiederum bis zu zwei Jahre auf das Schuljahr 2021/22 verschoben. 

Die NOST hatte sich nicht wie angekündigt als die große Schulreform erwiesen und ließ wieder Erinnerungen an die Pleiten- und Pannenserie bei der Einführung der Zentralmatura aufleben. Manche der Standorte nahmen auch die vom Bildungsminister Faßmann eingeräumte Möglichkeit in Anspruch, die bereits eingeführte NOST überhaupt auszusetzen und das alte System wieder zu installieren. Da einige Schulen, vor allem im BMHS-Bereich, dieses großzügige Angebot annahmen, war die Administration von zwei nebeneinander existierenden Systemen, die NOST musste ja für die darin „gefangenen“ Schüler ordnungsgemäß auslaufen, noch komplizierter geworden.

 

Gut lachen hatten natürlich die Schulstandorte, die von vornherein gewarnt durch die pannenreich und letztlich nicht wirklich überzeugend eingeführte Zentralmatura skeptisch der NOST gegenüberstanden und auf Abwarten gesetzt hatten. Im österreichischen Schulwesen mag, wie in diesem Fall, das Motto „Abwarten und Kaffee trinken“ durchaus seine Berechtigung haben.

Letztlich kündigte Bildungsminister Faßmann sogar an, dass man diese Verschiebung für zusätzliche Evaluierung nützen werde, um Lehrer und Schüler auf dieses neue Konzept besser vorzubereiten. 

Wie dieser Ankündigung des Bildungsministers zu entnehmen ist, möchte man an der NOST festhalten, zum Leidwesen vieler betroffener Lehrer und Schüler, und diese in überarbeiteter Form neuerlich präsentieren. Offensichtlich brachte man im Bildungsministerium nicht den Mut auf, die NOST endgültig zu entsorgen und einen „Irrweg“ einzugestehen, der eigentlich auf die Vorgänger des Bildungsministers, die irgendwelchen realitätsfremden und weit überschätzten Bildungsexperten auf den Leim gegangen waren, zurückzuführen ist.

Doch wie sieht nun dieses ursprüngliche Konzept, wie die praktische Anwendung aus? Welche Möglichkeiten bzw. Probleme für Lehrer und Schüler sind mit diesem verbunden? 

 

Die NOST und die praktische Umsetzung:

 

Infolge der Einführung der NOST kommt es zur Neugestaltung von Lehrplänen durch die Einteilung der Bildungs- und Lehraufgaben in sogenannte „Kompetenzmodule“.

 Die Leistungen von Schülern werden semesterweise aufgrund einer neuen Leistungsbeurteilungsverordnung beurteilt und abgeschlossen. Der Schüler schließt nur dann ein Fach positiv ab, wenn alle für das jeweilige Fach festgelegten Kompetenzbereiche positiv beurteilt worden sind.

 

Jedes Semester wird den Schülern ein „Semesterzeugnis“ ausgehändigt. Für jedes Fach, das mit einem Nicht genügend beurteilt worden ist, wird zusätzlich ein Beiblatt, welches die Lerndefizite und das Zustandekommen der negativen Beurteilung beschreibt, hinzugefügt.

Wenn der Fall auftritt, dass ein Schüler im Semester in einem oder zwei Fächern negativ bzw. gar nicht beurteilt wird, dann kann dieser in die nächste Schulstufe aufsteigen und sich im betreffenden Fach mittels einer Semesterprüfung innerhalb von zwei Semestern bis zu dreimal nachprüfen lassen. Jedoch darf der Schüler bei drei negativen Beurteilungen nur einmal und mit Konferenzbeschluss in die nächste Schulstufe aufsteigen. 

Nach der misslungenen ersten Wiederholung der Semesterprüfung ist der Schüler berechtigt, sich einen neuen Prüfer zu wählen. Zu jeder Prüfung hat sich der Schüler mittels eines Formulars beim Prüfer anzumelden.

 

Erkrankt ein Schüler vor einer angemeldeten Semesterprüfung, so muss er eine ärztliche Bestätigung vorlegen. Am Tag der Prüfung hat sich der Schüler per Email bei seinem Prüfer krank zu melden. Sinn und Zweck dieses Prozedere: Der Prüfungstermin geht dem Schüler nicht verloren.

Nach einer erfolgten Prüfung hat der Prüfer innerhalb einer Woche ein Prüfungsprotokoll im Sekretariat abzugeben sowie eine Kopie dem Klassenvorstand auszuhändigen.

Im Herbst dürfen maximal drei Semesterprüfungen von einem Schüler absolviert werden. Diese können, je nach Fach, schriftlich oder mündlich bzw. beides sein. Der Prüfer entscheidet darüber! Die Prüfungen müssen während der Unterrichtszeit abgelegt werden.

Lehrstoff ist, was im Beiblatt zum Semesterzeugnis angeführt wurde.

Dieser wird vom Fachlehrer unmittelbar nach der Noteneingabe in das Computerprogramm im Bereich Kompetenzen eingegeben. Angehakt wird, was der Schüler nicht konnte bzw. gelöscht, was er konnte.  Das Beiblatt ist vom Klassenvorstand und vom Direktor zu unterschreiben und abzustempeln.

 

Semesterprüfungstermine gibt es pro Semester drei: drei im Wintersemester, zwei im Sommersemester und zum Sommersemester dazugehörig eine im Herbst.

Ein Schüler kann in der NOST auch freiwillig ein Jahr wiederholen. Die Nicht genügend aus früheren Semestern werden dadurch nicht gelöscht.

Schafft ein Schüler die drei Semesterprüfungen in einem Fach nicht, wird das Nicht genügend auf dem „Parkplatz“ vor der Matura automatisch geparkt. Auf diesem „Parkplatz“ darf ein Fach nur einmal vorkommen. Insgesamt dürfen drei Nicht genügend geparkt werden. Schafft ein Schüler diese Parkplatzprüfungen nicht, darf er nicht zur Matura antreten. Der Schüler scheidet aus und kann nur mehr, welcher Zynismus, eine Abendschule besuchen, wobei er zusätzlich zwei Jahre verliert.

Schüler, denen ein Nicht genügend droht, können einen individuellen Lernbegleiter, der nicht als Nachhilfelehrer fungiert, wählen. Dieser hilft bei der Lernorganisation und dient als Gesprächspartner. Schüler können solch einen Lernbegleiter, auch wenn sie nicht volljährig sind, ablehnen. 

 

Fazit:

 

Lässt man obige Zeilen Revue passieren, so muss sich zwangsläufig beim Leser die Frage einstellen, ob sich solch ein Konzept wirklich effizient und für alle (Schüler, Lehrer und Eltern) schlüssig umsetzen lässt bzw. wie sinnvoll es ist.

 

Was in gewisser Weise für die NOST spricht, ist die Tatsache, dass von allen Schülern ein positiver Abschluss jedes Semesters verlangt wird und daher der Druck auf die Schüler entsteht, in jedem Semester positive Leistungen erbringen zu müssen. Hinzu kommt, dass einmal erbrachte positive Leistungen nicht mehr „verloren gehen“ können.

Es soll im Rahmen der NOST fast kein „Sitzenbleiben“ mehr geben, was sich gegenüber der Öffentlichkeit mitunter als Leistungssteigerung, beruhend auf einer besseren Motivation von Schülern, verkaufen lässt. Tatsächlich ist die Zahl der Sitzenbleiber nicht gesunken, dafür aber die Zahl der Schulabbrecher massiv angestiegen.

Besonders fatal für manche Schüler wirkt sich auch die Möglichkeit aus, drei Prüfungen bis zur Matura „parken“ zu können. Wer mit Schülern arbeitet, weiß wie gerne Schüler Termine verschieben und mitunter verspätet für Prüfungen zu lernen beginnen. Laut ersten Ergebnissen ist die Zahl der Schüler sehr hoch, die an der NOST gescheitert sind, die Schule ohne Matura verlassen und wertvolle Lebensjahre, ja Arbeitsjahre verloren haben. Der volkswirtschaftliche Schaden, der dadurch entsteht, ist erheblich. Ob solche Schüler dann in Abendschulen eine Matura nachholen und dabei wieder zwei Jahre verlieren wollen, ist äußerst fraglich. Andererseits im Alter von 17 oder 18 Jahren eine Lehre, die andere bereits abgeschlossen haben und entsprechend verdienen, zu beginnen, muss vielen Schulabbrechern als kontraproduktiv erscheinen.

 

Auffällig an der NOST ist die überbordende Bürokratie, die so manche Lehrer und vor allem Klassenvorstände, denen man die Verwaltung aufbürdet, an den Rand der Verzweiflung bringen. Die NOST setzt absolute Disziplin in der Terminisierung und Abwicklung von Prüfungen, in der Protokollierung und Dokumentierung erbrachter bzw. nicht erbrachter Leistungen voraus. Diese Disziplin ist, jeder, der als Lehrer arbeitet, weiß das, nicht bei allen Lehrern und Schülern generell gegeben und damit sind Konflikte und Erschwernisse im Arbeitsalltag vorprogrammiert.

Hinzu kommt, dass das derzeit angewendete Computersystem nicht den Anforderungen im Hinblick auf die Verwaltung der NOST entspricht.

Alles in allem präsentiert sich die derzeitige NOST als ein sehr kompliziertes

und daher schwer verwaltbares System mit fragwürdigen Erfolgsaussichten für die Schüler.

 

Man darf auf das Ergebnis der Evaluierung gespannt sein, aber nicht die Erwartung in sie setzten, dass das Projekt NOST abgeblasen wird. Zu viel Geld und Zeit wurde in diese investiert, als dass man ein Scheitern eingestehen würde.

 Man wird geringfügige Änderungen vornehmen, Kosmetik betreiben.

Euphorie und ein besonderes Engagement auf Lehrer- und Schülerseite hat sie bisher nicht und wird sie auch zukünftig nicht auslösen. Das marode österreichische Schulsystem wird an ihr nicht genesen, denn dazu bedarf es von Grund auf einer Neuausrichtung des Bildungssystems in Österreich.